Biografie
Dritter Teil
1926 - 1943
Als Kinofilm- Begleiter nach St. Gallen
Erste Jahre in der neuen Heimat
Freischaffender Musiker
Klavierlieder in St. Gallen
Einbürgerung 1943
Als Kinobegleiter und Revue-Musiker in St. Gallen
Nach etlichen vergeblichen Anläufen mit Bewerbungen für Orchester in Österreich und Deutschland erhielt Willy Heinz Müller 1926 tatsächlich ein Engagement als Geiger und Pianist im Lichtspielkino «Palace» im fernen St. Gallen. Zwar hatte er von der Ostschweizer Kleinstadt keine Ahnung, trotzdem stürzte er sich ins Abenteuer, heiratete seine Paula, und zog nach St. Gallen. Dort lebte er sich überraschend schnell gut ein und konnte erste Bekanntschaften mit St. Gallern schliessen.
Erfahrungen als Filmbegleiter hatte Müller bereits in Wien sammeln können, die er nun im Palace umsetzte. Zugleich besorgte er auch die musikalische Begleitung der diversen Bühnen-Revuen, die dort gespielt wurden. Doch schon vier Jahre später kam er vom Regen in die Traufe: der Tonfilm, der 1930 auch in St. Gallen Einzug hielt, verdrängte die Stummfilme mit ihrer Livemusik schlagartig und verdammte Willy Müller wieder zur Arbeitslosigkeit. Aufgeben mochte der mittlerweile 30jährige Musiker und Komponist ebenso wenig wie seine Frau, die in der Seidenmetropole Arbeit als Näherin fand.
Derweil schlug sich Müller als freier Musiker in Orchestern und Bands durch. So unternahm er 1932 mit dem populären Schweizer Schauspieler und Revuekomponisten Fredy Scheim eine Schweizer Tournee mit der Musik-Revue «Wenn der weisse Flieder wieder blüht». Es existiert ein zeittypisches Bild, auf dem Müller zusammen mit drei Kollegen zu sehen ist, gut gruppiert mit Geige in der Hand. Zu sehen sind weitere Instrumente wie Klavier, Schlagzeug, Handorgeln und Klarinetten.
Dank seines universellen Musikertalents konnte er sich daneben als Zuzüger im Tonhalle-Orchester St. Gallen etablieren, wo er regelmässig an den ersten Pulten der Violinen spielte. Seit 1917 war Othmar Schoeck als Dirigent des Tonhalle-Orchesters in St.Gallen tätig, ein Musiker, der Müller inspirierte. Schoeck war ein angesehener Komponist, der sich vor allem mit spätromantischen Klavierliedern einen Namen gemacht hatte, die auch in St. Gallen aufgeführt wurden. Willy Müller verehrte den Schweizer Dirigenten und Komponisten, wie der frühe Eintrag in Müllers Erinnerungsbuch dokumentiert.
Ähnlich wie bei Ernst von Dohnanyi war Schoecks Musiksprache eng im 19. Jahrhundert verwurzelt, Ausdruck und Anlehnung an den Text bildeten die Grundlagen. Willy Müller hat sich diesem ästhetischen Credo verbunden gefühlt, wie seine Lieder op. 11 bis op. 14 zeigen.
Die insgesamt zehn hier eingespielten Lieder entstanden alle in St. Gallen. Einzig das auf Mai 1933 datierte Lied op. 11 «Von unserer Liebe» basiert auf einem Gedicht von Friedrich Schreyvogel (1899-1976), die übrigen in den Jahren 1937 bis 1940 entstandenen sind auf Gedichte des Thurgauer Schriftstellers Hugo Binder (1896-1956) komponiert, dessen konzis kurze Art Müller sehr behagte. Binder hatte an der Handelshochschule St. Gallen studiert, wo die beiden Männer sich vermutlich kennengelernt hatten, und er gab in den 1930er Jahren mehrere Gedichtbände heraus. Die Lieder sind kurz, teilweise fast aphoristisch und stark textgebunden. Müller versteht es, mit kleinen Akzentverschiebungen oder harmonischen Wendungen auf kurzem Raum einen atmosphärischen Kosmos zu evozieren. Manches lehnt sich wie «Ich hab Dich lieb» an die ihm vertraute Salon-Musik an, doch lässt er dieser nie freien Lauf, sondern bricht den Fluss auf raffinierte Weise. Harmonisch am eigenwilligsten sind «Erkenntnis», «Lass mich an deine Liebe glauben» und «Wende», am anrührendsten das stimmungsvolle «Ich habe gegraben». Die stets durchschimmernde Melancholie, die jedoch jeweils am Schluss meist in lichtere Atmosphären führt, entspricht offensichtlich Müllers Charakter.
Mélanie Adami hat einen ganz speziellen Zugang zu diesen Liedern, die ihr Urgrossvater Willy Heinz Müller komponiert hat: «Ich glaube, die musikalischen Visionen meines Urgrossvaters nachvollziehen zu können.» Das Lied «Wende» definiert sie als typisch für die Binder-Vertonungen, denen sie eine spirituelle Art zuordnet: «Es geht um das unbegrenzte All, um den kleinen Menschen der in seiner ‘Egowelt’ musikalisch das Universum spüren lässt. Der kleine Mensch, der sich vielleicht zu wichtig nimmt. Und die Erkenntnis auf der letzten Zeile in terzlosem C Akkord, welche das Göttliche zeichnet.» Allen Lieder gemein ist Willy Müllers gekonnter Umgang mit der Gesangslinie, was wiederum auf die Passion seiner Mutter verweist, von der er so viel gelernt hatte.
Es ist erstaunlich, in welchem Mass sich Willy Müller in seiner neuen Heimat, die an peripherer Lage im Osten der Schweiz fast solistisch in der Landschaft stand, zurechtfand und sich etablieren konnte. So wurden seine Binder-Vertonungen 1940 von Radio Beromünster live gesendet – damals eine besondere Ehre für einen Nicht-Schweizer. Bald war er auch ein angesehenes Mitglied des SMPV (Schweizerischer Musikpädagogischer Verband) und unterrichtete zahllose Jugendliche in den Fächern Geige, Klavier und Musiktheorie. In seinem Umgang mit den Schülerinnen und Schülern wird er als zuvorkommend, charmant und pragmatisch geschildert, aber gemäss seiner Wiener Schulung auch als ausserordentlich streng.